Täter und Opfer

Andrea hat es nicht leicht. Mit gebrochenem Fuß, angeknacksten Rippen und Gehirnerschütterung. Aber immerhin lebt sie noch und kann dem Kommissar erzählen, was passiert ist – und sie kann ihm das Tagebuch überreichen, das sie fast ins Grab gebracht hätte.
Entsprechend erfreut ist natürlich Gregory, als er mitten in der Nacht von einer Krankenschwester geweckt wird und plötzlich Andrea vor ihm steht – Schatz, ich hatte einen Unfall. Da ist der nächste Herzanfall nicht weit. Inga und Jack sind ähnlich geschockt.
Andrea bleibt also über Nacht im Krankenhaus und schmökert, während Greg die Krise kriegt, mit dem Kommissar im Tagebuch der Toten. Darin steht alles, was sie wissen müssen. Aber danach unterhalten sie sich noch ziemlich tiefgehend und Andrea erzählt ihm, warum sie eigentlich Profilerin ist.
(Heute dann mal ein extralanges Stück zum Lesen!)

Becker seufzte. „Ich weiß nicht, wie ich mich an Ihrer Stelle verhalten hätte. Ob ich Hilfe geholt hätte. Ob ich ihn sterben gelassen hätte.“
„Wissen Sie, das ist das Merkwürdige, wenn man einem Verbrecher als Opfer gegenübersteht. Man hat unwillkürlich eine Beziehung zum Täter, ob man nun will oder nicht. Als ich vorhin bei ihm saß und mit ihm sprach, war es eine ganz eigenartige Situation. Er war der Cousin meines Mannes, wollte mein Mörder sein, ich kannte ihn. Ich hatte sogar ein wenig Mitleid. Man ist sich nicht mehr fremd. Diese Vertrautheit ist wirklich unheimlich. Das habe ich schon mehrmals erlebt. Jonathan Harold, der Campus Rapist von Norwich, wurde plötzlich ganz sanft, als er meine Freundin erst umgebracht hatte. Ich konnte über die Stunden hinweg beobachten, wie seine Motivation ins Wanken kam. Erst wollte er mich töten, und zwar ganz besonders grausam. Dafür hatte er geübt. Für meine Folter. Aber dann war ich da und habe ich anders verhalten, als er es erwartet hätte. Einfach weil ich schon wußte, wie er tickt … Und das hat ihm imponiert. Vorher hat er mich angebrüllt, vielleicht auch mal geschlagen. Er wollte mich einschüchtern. Aber dann, als wir allein waren, da setzte er sich zu mir und sprach mit mir. Er wollte wissen, ob ich ihn verstehe.“
„Was haben Sie gesagt?“ fragte Becker tonlos.
„Ich konnte nichts sagen. Ich habe nur genickt.“ Mit dem Blick ins Nichts atmete ich tief durch und zog die Schultern hoch. „Das war der Moment, verstehen Sie? Vor ihm lag diejenige, die ihn monatelang gejagt hatte. Und mein Profil hat ihn letztlich auch zur Strecke gebracht. Bei allem, was er tat, war mir klar, warum er es tat. Ja, ich habe ihn verstanden. Sogar noch in dem Moment, als er seine Folter gegen mich gewandt hat.“
„Das … das kann ich mir fast nicht vorstellen.“
„Das kann man auch nicht. Aber in diesem Moment wurde mir eins klar: Das ist ein Geschenk. Ich war selbst Opfer. Ich wollte nicht, daß solche Verbrecher frei herumlaufen und ich wollte andere Opfer schützen. Es ist doch eine Gabe, sich so sehr in psychisch kranke Täter hineindenken zu können, daß man sie finden und verhaften kann! Und dabei kommt man ihnen unwillkürlich so nah, wie ich Thomas vorhin nah kam. Es ist so eine seltsam intime Situation, der man sich kaum entziehen kann. Nur daß ich vorhin nicht mehr das Opfer war. Ich hatte gewonnen.“ Nervös knetete ich meine Finger. „Er hat gesagt, ich soll den Job weitermachen.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Weil ich es gut kann, sagte er. Und wissen Sie was? Ich werde es tun.“

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