Leseprobe 2: Der Flammenriß

„Morgen werden wir den Flammenriss erreichen“, sagte Nilas.
„Der Flammenriss verläuft zwischen drei Gebirgszügen“, erklärte Marthian. „Im Westen liegen die Multhaor-Berge, im Süden die Fulmalberge und im Osten der Rhonda‘Jamir. Vikormos hat uns erklärt, daß solche Landstriche entstehen, weil die Erde sich bewegt. Das wissen wir nur, weil es von den Vandhru dementsprechende Aufzeichnungen gibt. Sie leben lang genug, um zu sehen, wie sich die Welt verändert. Und es heißt, daß die Multhaor-Berge einst viel höher waren und der Rhonda‘Jamir flacher. Diese Gebirge türmen sich auf, weil die Welt immer in Bewegung ist. Der Flammenriss ist noch gar nicht so alt, nur wenige tausend Jahre. Bei einem gewaltigen Erdbeben wurden damals weite Landstriche erschüttert und die Naturgewalt muß so groß gewesen sein, daß plötzlich die Erde an der Stelle aufriß, wo sich heute noch immer der Flammenriss befindet. Aber früher war es wohl so, daß flüssiges Feuer aus dem Inneren der Erde kam. Heute ist das nicht mehr so schlimm, aber man kann es immer noch sehen. Vikormos bat uns, darauf zu achten, wo wir laufen, denn überall kann das Gestein einbrechen. Es ist nicht nur dort gefährlich, wo man das Feuer sehen kann.“
„Was du wieder alles weißt“, neckte Nilas ihn.
„Das rettet deine vorlaute Klappe!“ erwiderte Marthian.
Im Angesicht des nahen Flammenrisses schliefen sie recht unruhig. Nilas schreckte immer wieder hoch, weil er glaubte, ein Geräusch vernommen zu haben. Am nächsten Morgen machten sie sich ein wenig zaghaft auf den Weg. Arinaya glaubte bald, aufkeimende Unruhe bei Archibald zu spüren. Mit jedem weiteren Schritt war es ihr, als würde es immer heißer. Bald krempelte sie die Ärmel ihres Hemdes so weit hoch wie möglich. Die Burschen hätten ihre Hemden gern ausgezogen, doch wegen der brennenden Sonne war das nicht anzuraten.

Langsam und träge schleppten sie sich durch die Felslandschaft, erklommen kleine Hügel und kletterten auf der anderen Seite hinab. Ein beständiger Dunst lag in der Luft, denn aus vielen Felsspalten drang heißer Dampf empor.
„Es gefällt mir hier nicht“, stellte Marthian mißtrauisch fest. Archibald schnaubte zustimmend.
Meile um Meile kämpften sie sich voran, bis die Sonne bereits sehr tief stand. Ihre orangen Strahlen tauchten die Welt in ein unwirkliches Licht, der Flammenriss tat sein Übriges.
Nirgends gab es einen Ort, der als Lagerplatz getaugt hätte. Und sie waren bereits viel zu nah am Flammenriss. Zumindest würden sie hier in der Nacht nicht das Problem haben, daß es zu dunkel war, um weiterzugehen.
Sie wollten keine Rast machen. Zwar waren sie erschöpft und müde und auch Archibald wehrte sich gegen jeden weiteren Schritt, aber sie wußten, in der Dunkelheit war es gefährlich am Flammenriss. Sie waren zu nah, um darüber hinwegzusehen.
So gingen sie weiter. Bald war die Sonne untergegangen. Die Monde waren noch nicht zu sehen, aber auch keine Sterne, denn es lag zuviel Qualm in der Luft.
Arinaya schleppte sich widerwillig voran. Die Welt war in ein unwirkliches Licht getaucht. Ihre Stiefel wirbelten mit jedem weiteren Schritt Staub auf. Sie mußte furchtbar aussehen.
Unvermittelt fanden die Freunde einen tiefen Abgrund vor ihren Füßen. Es ging dort einige hundert Fuß in die Tiefe und am Grund leuchtete ihnen eine Kluft aus Feuer entgegen. Es war sengend heiß, die Hitze schlug ihnen nur so entgegen.

„Da kommen wir nicht runter“, stellte Nilas fest. Er schaute nach Norden und Süden und glaubte, weiter im Norden einen dunklen Fleck auszumachen, der möglicherweise auf eine Stelle hindeutete, an der sie die Schlucht überqueren konnten. Er machte seine Freunde darauf aufmerksam und sie entschieden gemeinsam, diesen Weg versuchen zu wollen.
Am Rande der Schlucht liefen sie durch die flammendurchsetzte Dunkelheit. Archibald schnaubte nervös und Arinaya versuchte, den Esel zu beruhigen. Dampfschwaden schlugen ihnen entgegen.
Der Grund senkte sich merklich ab. Sie kamen der flammenden Schlucht immer näher, folgten dem Gefälle und waren nach weniger als einer Meile fast auf gleicher Höhe mit dem feurigen Grund. Was sich dort vor ihnen erstreckte, mutete an wie brennendes, flüssiges Gestein. Doch mitten über diesem Feuerstrom verlief eine Art Gesteinsbrücke von der West- auf die Ostseite.
Arinaya band Archibald ein Tuch um die Augen. Das beruhigte den Maulesel sichtlich. Marthian führte das Tier weiter an dem Seil und zog ihn zu dem Gesteinspfad hinüber. Nebeneinander tasteten sie sich über die Felsen vor. Links und rechts von ihnen brodelte es. Die Kleider klebten ihnen wegen der Hitze nur so am Leib. Außer dem Schein des Feuers gab es kein Licht. Das Farbenspiel beschränkte sich auf den Kontrast zwischen Feuer und schwarzem Gestein.
Der Flammenriss war an dieser Stelle etwa tausend Fuß breit. Diese Strecke brachten die Freunde vorsichtig, aber recht schnell hinter sich. Als sie jedoch die andere Seite erreichten, standen sie vor einem neuen Problem: Die Felsen ragten hier wiederum viele hundert Fuß hoch in den Himmel und es schien auf den ersten Blick keinen Aufgang zu geben. Sie waren auf einer kleinen Plattform gefangen, die sich jedoch nach Norden hin noch ein gutes Stück ausdehnte.
„Da lang“, schlug Nilas vor. So wandten sie sich nach Norden – wohlweislich, daß sie sich damit tief in den Flammenriss hinein bewegten.
Archibald scheute. Marthian hatte Mühe, das Tier zu halten. Links neben ihnen erstreckte sich kochendes Gestein, rechts befand sich eine Felswand, die sie unausweichlich dort festhielt. Der Boden war voller Asche.
Arinaya hatte die Daumen neben den Dolchen in den Gürtel geklemmt. Aufmerksam spähte sie in die dampfverhüllte Dunkelheit vor sich. Plötzlich vernahm sie das Poltern eines Steinchens über sich und wandte den Kopf nach oben. Es war nichts zu sehen außer einem Fels, der wie eine Kerze in die Höhe ragte. Sie wandte sich wieder ab.
Keiner der drei sagte etwas. Marthian hielt mit einer Hand Archibald, mit der anderen sein Schwert. Auch Nilas war wachsam. Überall war Feuer. Zwar stieg der Weg langsam wieder an, aber noch waren sie sehr nah am Flammenschlund.

Arinaya fuhr herum. Sie hatte ein kratzendes, schnarrendes Geräusch gehört. Doch sie sah hinter sich nur Rauch.
„Was ist los?“ fragte Nilas.
„Da war etwas“, sagte Arinaya. „Hast du es nicht gehört?“
„Doch“, sagte er. „Ich wollte nur sichergehen, daß du es auch gehört hast.“
Marthian sah die beiden fragend an, sagte aber nichts. Vorsichtig gingen sie weiter. Doch es rumpelten immer wieder Steinchen und Geröll und sie hörten auch immer wieder das schnarrende Geräusch.
Nilas zog die Waffen. Er konnte nichts sehen, aber er wußte genau, daß da etwas war. Archibald schnaubte mißfällig. Marthian schaute sich immer wieder um. Über sich konnte er nichts erkennen, hinter und vor sich nicht und im Feuer schon gar nicht. Aufmerksam schaute er hinauf zu den Felsen, bis er etwas im Augenwinkel wahrnahm. Er wandte den Kopf und erstarrte.
Vor ihm stand ein dreibeiniges, schwarzes Wesen, das fast so groß war wie er selbst. Es hatte Beine wie eine Heuschrecke, einen kerzenartigen Körper und gelbe Augen mit geschlitzten Pupillen. Seinen krummen Rücken verunzierten Stacheln. Es hatte ledrige Haut und einen vorstehenden Kiefer.
Für einen Augenblick setzte Arinayas Herzschlag aus. Nilas hingegen war der einzige, der nicht stehenblieb, sondern sich dem leise schnarrenden Wesen vorsichtig näherte. Er beäugte es skeptisch und hielt seine Dolche halb hinter dem Rücken.
Der Dunkelschleicher bewegte sich gar nicht, aber Marthian sah an der Bewegung seiner seitlichen Augen, daß er sein Gegenüber genau beobachtete.
„Wir gehen einfach ganz langsam an ihm vorbei“, sagte Nilas. „Vielleicht hat er ja Angst vor uns.“
„Das sieht nicht so aus!“ widersprach Marthian.
„Zurück? Da geht es doch auch nicht weiter! Irgendwas müssen wir tun!“

Arinaya drehte sich um und unterdrückte einen Schrei. Die Burschen drehten sich ebenfalls sofort um und hoben die Waffen. Drei weitere Dunkelschleicher hatten sich unbemerkt von hinten an sie angeschlichen. Als Marthian wieder nach vorn blickte, waren aus einem Dunkelschleicher plötzlich auch drei geworden.
„Bei meiner Seele“, murmelte er. Sie saßen in der Falle. Archibald scheute ängstlich. Er spürte die Anwesenheit der Feinde. Die Kameraden stellten sich Rücken an Rücken. Als der erste Dunkelschleicher seinen Kiefer zu Nilas hin aufriß, schlug dieser mit den Dolchen nach der Kreatur. Er hatte keinen Erfolg, die Klingen schnitten nur in die Haut, durchdrangen sie aber nicht. Der Dunkelschleicher fauchte wild.
Auch Arinaya wurde angegriffen. Instinktiv trat sie nach dem Dunkelschleicher und glitt mit den Klingen ebenfalls an dessen Haut ab, korrigierte den Fehler dann aber und hieb nach seinem Auge. Eine Flüssigkeit, ähnlich wie Blut, spritzte ihr entgegen. Der Dunkelschleicher kreischte wild und huschte zurück. Laut schnarrend stürzten sich zwei andere Bestien auf Arinaya. Sie warf sich rückwärts zwischen sie und hieb mit beiden Dolchen nach den Kreaturen. Dann kam sie rücklings auf dem Boden auf.
Marthian baute sich vor Archibald auf, während Nilas versuchte, sein Gegenüber an empfindlichen Stellen zu treffen. Er trat gegen das Beingelenk des Dunkelschleichers und brachte ihn zum Schwanken. Sein Stiefel landete hoch am Kopf des Wesens, das laut krächzte.
Marthian vertraute, während Arinaya mit ihren Gegnern focht, auf die Kraft seines Schwertes und umfaßte das Heft mit beiden Händen. Mit aller Kraft hieb er auf einen der Dunkelschleicher ein. Mit dem Schwert gelang es ihm, durch die dicke Haut des Wesens zu stechen. Auch ihm spritzte eine zähe Masse entgegen, die ihm fast das Schwert aus den Händen gleiten ließ.
Als er sah, daß Arinaya am Boden lag, schlug er mit dem Schwert um sich. Zwei Dunkelschleicher wollten sich auf das am Boden liegende Mädchen stürzen, doch Marthian ging mit dem Schwert dazwischen. Die Klinge fuhr einem der Monster in den Kopf, doch das andere stand noch dort und starrte Marthian blutdurstig an.
Archibald brüllte laut. Arinaya versuchte aufzustehen, doch ein Tritt des Dunkelschleichers warf sie wieder zu Boden. Nilas focht indes mit zwei der Kreaturen.
Marthian hatte den Überblick verloren, aber nicht sein Gegenüber. Er wollte den Dunkelschleicher mit dem Schwert aufspießen, doch ehe er ausholen konnte, fuhr ein sengender Schmerz durch seinen Körper. Mit einem Schrei sackte er in die Knie und ließ das Schwert fallen. Arinaya stieß einen Schrei aus. Ein Dunkelschleicher hatte seinen riesigen Kiefer in Marthians Schulter gerammt und ihm nicht nur das Hemd zerfetzt. In Sekundenschnelle verfärbte sein Hemd sich blutrot.

Arinaya sprang auf und griff nach Marthians Schwert, während er zur Seite fiel und das Bewußtsein verlor. Zitternd, mit einem Dolch und dem Schwert bewaffnet, stand sie vor ihm und sah sich drei Dunkelschleichern gegenüber. Nilas befand sich in der gleichen Situation. Drei dieser Bestien waren zuviel für ihn. Archibald trat aus, als ein Dunkelschleicher ihm eine Bißwunde zufügte. Nilas mußte einem weit geöffneten Kiefer ausweichen, denn sonst wäre es ihm ergangen wie Marthian.
Mit einem Schrei hieb Arinaya auf einen Dunkelschleicher ein. Sie traf ihn irgendwo, setzte ihn aber nicht außer Gefecht. Fast ihr ganzes Wissen war nutzlos, weil sie nicht wußte, wie sie die Dunkelschleicher verletzen konnte.
Irgendetwas traf Nilas an der Seite. Sein Arm war zerkratzt, er spürte eine Prellung an der Seite, seine Hose war gerissen. Sein Gesicht war voller Staub und Kratzer. Auch Arinaya wurde von den Dunkelschleichern angegriffen und zu Boden geworfen. Das Schwert rutschte ihr aus der Hand. Sie schürfte sich die Arme auf und hielt sie schützend nach oben, als eine Bestie nach ihr schnappte. Die Fänge des Monsters gruben sich tief in ihr Fleisch. Sie brüllte vor Schmerzen.
Auf einmal wurde viel Staub aufgewirbelt. Sie hörte einen dumpfen Aufprall und spürte einen starken Windstoß. Als sie den Dunkelschleicher vor sich anstarrte, sah sie, daß ein Pfeil aus seinem Kopf herausragte. Sogleich fiel er tot um.
Das zähe, grüne Blut eines anderen Dunkelschleichers traf sie am ganzen Körper. Zitternd beobachtete sie, wie eine weitere Bestie zu Boden ging. Dann sah sie, wie ein funkelndes Langschwert senkrecht durch den Körper eines dritten Schleichers glitt. Kreischend stoben die übrigen Bestien davon.
Sie lag neben vier toten Dunkelschleichern. Ihr Arm war vollkommen gefühllos, aber blutüberströmt. Nilas lehnte keuchend an einem Felsen. Sein Gesicht und seine Kleidung waren ebenfalls blutverschmiert. Zwischen ihm und Archibald stand ein hünenhafter Kerl, zu dem das glänzende, nun blutverschmierte Schwert gehörte. Seine Haut schien fahl im unheimlichen Licht des Feuers. Katzenhafte Augen schauten zu Arinaya. Er war riesig, hatte langes schwarzes Haar, das zu einem Zopf gefaßt war. Er trug nur eine Lederhose und feste Stiefel. Um seinen bloßen Oberkörper hatte er den Riemen eines Köchers geschnallt.
Vor allem hatte er riesige, mehr als mannsgroße Flügel. Ein Dremenol, ein Dunkelschleicherjäger.
„Ihr seid wahnsinnig, daß ihr euch her wagt“, sagte er.