Leseprobe: Die Wahrheit

„Wer hätte gedacht, daß es auch in diesem Morast noch sauberes Wasser gibt!“ freute sich Doran und legte seine Waffe ab. „Ich weiß ja nicht, was ihr tun wollt, aber ich werde jetzt schwimmen gehen! Schlamm zwischen den Zehen fühlt sich nicht besonders gut an.“
„Meine Rede!“ stimmte Akin lauthals zu, dem noch immer der Schlamm die Haarspitzen verklebte.
„Wir müssen aussehen wie die allerletzten Schmutzfinken!“ bemerkte Agarin lachend, und so war das Vorhaben beschlossene Sache.
Kayla klappte der Unterkiefer herunter. Etwas hilflos stand sie inmitten der Jungs, die ohne zu zögern ihre Waffen wegwarfen. Selbst Agarin ließ das Hemd, das die Splitter beherbergte, am Seeufer liegen, und warf sich splitternackt in die kühlen Fluten. Sie alle bemerkten nicht, daß Kayla noch immer wie gelähmt dastand, obwohl sie selbst völlig verschmutzte Sachen hatte. Die anderen tollten bereits vergnügt im Wasser herum, während Kayla kaum zu atmen wagte und nervös an den kleinen Schnüren herumspielte, die vorn den Kragen ihres Hemdes zusammenhielten.
„Das ist herrlich!“ freute sich Giro und tauchte ab. Gordian versuchte, sich rücklings auf dem Wasser treiben zu lassen, aber dieses Vorhaben stellte sich als nicht allzu leicht zu lösen heraus.
Kayla konnte versuchen, zu lügen, aber sie sah davon ab, weil sie sich selbst nicht glauben würde.
Jetzt war alles vorbei.
„Komm, Kerrin, es ist wunderbar! Warm ist es vielleicht nicht, aber es ist sauber!“ rief er ihr mit einem fröhlichen Winken zu. Kayla senkte den Kopf und schluckte. Sie ließ ihr Schwert scheppernd ins Gras fallen, räusperte sich und spürte, wie sehr sie sich daran gewöhnt hatte, die Stimme zu verstellen.
„Es gibt da nur ein Problem“, sagte sie und bemühte sich darum, mit normaler Stimme zu sprechen und nicht mit der eines jungen Mannes. Giro hatte schon einen frechen Kommentar auf der Zunge liegen und wollte sie wasserscheu nennen, doch dann ließ er den Mund offenstehen und sah etwas irritiert aus. Auch die anderen wunderten sich und wußten nicht recht, wer da gesprochen hatte. Kayla spürte fragende Blicke auf sich.

„Ihr habt richtig gehört“, sagte sie und hustete, weil ihr nun die so lang verstellte Stimme schwand. Die anderen waren sprachlos. Sie begriffen noch gar nicht, was geschah und niemand brachte auch nur ein Wort über die Lippen, nicht einmal Agarin. Kayla kam näher, zog ihre Stiefel und Socken aus und streckte die kleinen Füße bis ins Wasser hinein. Sie wagte es aber nicht, die anderen anzusehen.
„Ich habe euch nicht gesagt, wer ich wirklich bin.“
Tausend Fragen schossen den Burschen durch die Köpfe, und weil sie immer noch nicht ganz begriffen, machte Kayla es kurz, schlang die Arme um ihren Leib, packte ihr Hemd und zog es kurzerhand über den Kopf. Die Sprachlosigkeit wurde noch größer. Kayla saß zitternd da, mehr vor Furcht denn vor Kälte, und die Jungs begriffen langsam, was sie meinte. Sie erkannten, was die feste Bandage die ganze Zeit über verborgen hatte, bemerkten ihre schlanke weibliche Taille und trauten ihren Augen dennoch kaum. Gordian wäre vor Schreck fast untergegangen, doch nun war er es, der zuerst wieder etwas sagen konnte.
„Du bist gar nicht Kerrin?“
„Nein, ich bin nicht Kerrin und ich heiße auch nicht so. Mein richtiger Name ist Kayla.“
„Ich hatte keine Ahnung!“ entfuhr es Agarin, der sie vor lauter Überraschung noch immer unverblümt anstarrte, aber im nächsten Moment wurden sie sich alle ihrer Blöße bewußt und erschraken. Dennoch blieben sie alle im Wasser.
Kayla hustete wiederum. Nach all der Zeit wieder mit normaler Stimme zu sprechen war sehr anstrengend.
„Kerrin ist eine Frau?“ Giros Kommentar hätte die anderen bei jeder anderen Gelegenheit amüsiert, doch in dieser Situation fand das niemand besonders komisch.
„Erst sollten wir rauskommen!“ schlug Doran vor und Kayla ging, ohne ihr Hemd mitzunehmen, um die Decken der Jungs zu holen.
„Ich bin sprachlos“, murmelte Agarin leise. „Was hat dich dazu gebracht, dich als Mann auszugeben? Und bei allen Heiligen, wie ist es dir gelungen, das so glaubhaft zu tun?“

„Es hätte mich das Leben kosten können, wenn ich es nicht getan hätte“, begann Kayla ihre Erzählung. „Ich habe als Waise mit meiner zwei Jahre älteren Schwester bei Onkel und Tante gelebt. Deren Kinder waren für uns wie Geschwister, und mein Vetter Valo, den ich manchmal sogar Bruder nannte, hat mich gegen den Willen seines Vaters den Schwertkampf und das Schießen gelehrt. Von ihm habe ich auch meine Waffe. Ich stamme aus Galor, wie ich es euch gesagt habe. Ich habe mein gesamtes Leben in Peronas verbracht, aber das hat mir kein Glück gebracht, da mir erst die Zirags meine Eltern nahmen und dann…“ Sie holte tief Luft und nun, da sie wieder darüber sprach, fiel es ihr wieder sehr schwer, überhaupt darüber nachzudenken.
„Und dann kam ein Halbstarker, irgendein dahergelaufener Kerl, der leider Neffe des Stadtvorstehers war. Er meinte, meine Schwester überfallen, schänden und erwürgen zu müssen. Sie war sechzehn. Ich habe sie am nächsten Tag tot im Feld gefunden.“ Sie lachte bitter und ihr Sarkasmus unterstrich ihre Worte noch. Betroffenheit zeichnete sich in den Gesichtern der anderen ab.
„Ich war fast noch ein Kind. Aber dann kam das Schlimmste. Jemand hatte den Mörder gesehen, ein Bettler, dem niemand wirklich Glauben schenken wollte. Dafür sorgte der Stadtvorsteher schon, um seinen Neffen zu schützen, dem so niemand etwas anhaben konnte. Das habe ich nicht ertragen. Ich habe fünf Jahre lang nachts von meiner toten Schwester geträumt und habe Rache geschworen, ohne zu ahnen, daß mein Tag wirklich kommen würde. Es war, als mein Onkel mich unbedingt verheiraten wollte. Ich wollte mich mit einem jungen Mann auf dem Frühlingsfest verloben, als ich den Mörder meiner Schwester sah. Ich bin ihm gefolgt und weil ich immer bewaffnet bin, war es für mich ein Leichtes, ihn anzugreifen. Er hat mich verhöhnt, aber schließlich hat er zugegeben, sich an Kiana vergriffen zu haben. Und ich habe ihm den Dolch ins Herz gestoßen, ohne noch darüber nachzudenken.“

Agarin seufzte. Die anderen starrten Kayla noch immer reglos an, nicht fähig, zu glauben, was sie erzählte.
„Vor dem Gesetz bin ich also eine Mörderin“, wollte sie fortfahren, aber mit einem harschen Kopfschütteln unterbrach Agarin sie und sagte: „Wenn es war, wie du sagst, war es… Mord, aber ich kann es verstehen. Ich denke, ich hätte nicht anders gehandelt, wenn es meine Schwester gewesen wäre.“
Mit Tränen in den Augen suchte Kayla seinen Blick und nickte dankbar. „Das sah mein Vetter auch so. Er hat mir geholfen. Um nicht erkannt zu werden, habe ich mir die Haare abgeschnitten, mich wie ein Mann angezogen und meine Stimme verstellt. Niemand hat wirklich an meiner Verkleidung gezweifelt… bis auf den Unbekannten in Gelanon. Er wußte es, warum, weiß ich nicht.“
Agarin hatte eine dringende Frage. „Und woher hast du dann den Kristall?“
„Nicht von einem Markt. Es klingt vielleicht verrückt, aber er rutschte dem toten Mörder meiner Schwester aus der Tasche, als er vor mir zu Boden ging. Ich wußte nicht, was er da hatte, aber es sah wertvoll aus und deshalb nahm ich es mit. Um Geld damit machen zu können.“