Leseprobe: Die Liebe einer Mutter

Erleichtert schleppten sie sich weiter die Straße entlang. Es machte Kaliron immer noch nichts aus, seinen Neffen auf seinen Schultern zu tragen. Kortas hielt sich gut fest und der junge Mann hatte auch die kleinen Beinchen des Jungen umschlungen. Arinaya war ihm unendlich dankbar, daß er sich diese Last aufbürdete.
„Komm, wir fragen da vorn in dem Gasthaus“, schlug Kaliron zuversichtlich vor, als sie die ersten Häuser des kleinen Dorfes bereits passiert hatten. Seine ältere Schwester nickte müde. Es war nicht mehr weit bis zum Gasthaus, nur noch einige Schritte. Auch diesmal hatten sie vor Einbruch der Nacht noch eine Herberge gefunden, dachte Kaliron erleichtert, als er plötzlich Schreie vernahm. Langsam drehte er sich um und auch Arinaya hörte den Aufruhr. Panisches Geschrei schallte durch einige Straßen. Für einen Moment stand die junge Mutter einfach nur da, bis sie plötzlich im Augenwinkel schattenhafte Umrisse riesenhafter schwarzer Flügel ausmachen konnte. Fast hätte sie aufgeschrien.
Stattdessen biß sie die Zähne fest zusammen und packte ihren Bruder an der Schulter. Ehe der fragen konnte, vernahm er die gellenden Rufe: „Es ist der Dämon! Es ist Zartokh!“
Er schluckte und folgte Arinaya hastig. Sie stürzten in das Gasthaus; Arinaya warf die Tür hinter sich zu. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an die Wand und betete, daß Zartokh sie nicht gesehen hatte. Er durfte sie nicht finden. Bitte nicht.

„He“, sagte der Gastwirt. Arinaya blinzelte und sah, wie Kaliron ihren Sohn absetzte.
„Guten Tag“, grüßte er den Vandhru. „Entschuldigt unser Hereinplatzen, es tut mir leid. Aber mir war so, als hätte ich gehört, Zartokh sei hier.“
„Das rufen sie auch“, sagte der langohrige Vandhru. „Schon gut, kommt nur herein. Nur sieht man hier nicht alle Tage Menschen. Seid ihr Freunde von Maios‘ Tochter?“
„Ja“, sagte Kaliron und verzichtete darauf, präziser zu werden.
„Kann ich euch etwas bringen? Sucht ihr eine Unterkunft?“
Während Kaliron mit Kortas an der Hand zur Theke hinüberging und Arinaya ihm langsam folgte, schallte plötzlich das gutturale Gebrüll des Dämons durch die Straße – dieselbe Straße, auf der sie gerade gestanden hatten.
Arinaya fuhr herum. Sie prallte rücklings gegen die Theke, ehe plötzlich der Boden von einem starken Aufprall erzitterte. Kaliron reagierte sofort und rannte um die Theke herum. Auf die Schnelle hatte er keinen Fluchtweg entdeckt. Der Wirt begriff und stellte keine Fragen.
„Hier“, sagte er und hastete an der Küchentür vorbei zu einer geschlossenen Tür. Er öffnete sie und winkte den Menschen, herzukommen. Arinaya hob im Laufen ihren Sohn auf den Arm und rannte durch die Tür, dicht gefolgt von Kaliron.
„Lauft!“ zischte der Wirt und schloß die Tür hinter ihnen. Keuchend rannte Arinaya die Treppe hinauf, es ging um einen kleinen Mauervorsprung herum. Sie blieb stehen, als sie hörte, wie unten mit einem lauten Krachen die Eingangstür aufflog und aus den Angeln fiel.

„Komm!“ zischte Kaliron, aber Arinaya schüttelte stumm den Kopf. Sie war sicher, daß Zartokh sie längst gehört hatte. Er hatte sie ja offensichtlich auch gesehen.
„Er weiß, daß wir hier sind!“ wisperte sie, und ihre Stimme zitterte vor Angst. Mit geweiteten Augen sah sie ihren Bruder an und drückte sich an die Wand. Ihr Herz raste.
Sie vernahmen Zartokhs klanglose Stimme. Arinayas Angst wuchs, während sie Kortas fest an sich gedrückt hielt und überlegte. Es hatte keinen Sinn, noch fliehen zu wollen. Nicht vor Zartokh.
„Ari!“ flehte Kaliron verzweifelt. Wieder schüttelte sie den Kopf.
„Wo?“ hörten sie Zartokh brüllen.
Kaliron zog sein Schwert. „Das hilft doch!“
Arinaya schluckte und versuchte, das ängstliche Zittern zu unterdrücken, das sie ergreifen wollte. Sie dachte in diesem Moment nicht mehr an ihre eigene Flucht, denn die glückte ohnehin nicht. Niemals.
„Kali“, flüsterte sie tonlos. „Nimm Kortas und lauf. Bitte. Nimm ihn und lauf weg, ich flehe dich an!“
„Nein!“ empörte Kaliron sich. „Komm jetzt gefälligst mit! Du weißt doch gar nicht, ob …“
Sie vernahmen ein fürchterliches Geräusch, das Stöhnen eines Sterbenden, wie Arinaya sofort begriff. Ihr brach der Schweiß aus. Hastig drückte sie Kaliron ihren Sohn in die Arme.
„Bitte! Er ist Marthians Sohn, Zartokh bringt ihn um! Bitte rette meinen Sohn!“ flehte sie mit Tränen in den Augen.
„Aber du …?“ begann Kaliron hilflos.
„Er läßt nicht von uns ab! Bitte lauf, mir passiert schon nichts!“
„Nein!“
„Kali! Verflucht seist du, jetzt lauf endlich!“ bettelte Arinaya ihn an. Er nickte schließlich, wandte sich um und rannte.

„Mama“, jammerte der kleine Junge. Vergeblich versuchte Arinaya, es zu ignorieren. Angst und Entsetzen forderten ihren Tribut; Tränen rannen ihr über die Wangen, während unter ihr die Tür aufflog und sie die schweren Schritte der Bestie vernahm. Flehend schaute sie zu Kaliron, der die nächstbeste Tür aufriß und dahinter verschwand. Er hatte seine Hand über Kortas‘ Mund gelegt, der mürrisch strampelte. Leise schloß er die Tür.
Arinaya schnappte nach Luft. Sie schlang die Arme um den Leib und biß sich auf die Lippen, starrte stur geradeaus. Zartokh konnte sie haben – wenn nur Kortas nichts zustieß. Sie war sicher, daß er den Kleinen tötete, wenn er ihn nur sah – sie jedoch nicht. Vielleicht.
Die Schritte verstummten. Als Arinaya langsam den Kopf drehte, hielt sie die Luft an und erstickte einen panischen Schrei. Zartokhs gewaltige, schattenhafte Gestalt füllte das gesamte Treppenhaus aus. Die Farbe an den Wänden erschien dort welk, wo er gegangen war. Ein breites Grinsen entblößte seine gewaltigen Reißzähne.
„Also doch“, grollte er. „Die kleine Arinaya, ganz allein! Wo ist dein Begleiter?“
Wieder hätte sie schreien mögen. „Er ist nur mein Bruder“, erwiderte sie tonlos.
„Mit seinem Sohn, nehme ich an?“
Sie nickte hastig und verbannte jeden Gedanken an Kortas aus ihrem Kopf. „Laßt ihn, bitte! Ich mache keinen Ärger, aber laßt ihn in Ruhe!“
„Keine Ursache“, erwiderte Zartokh gönnerhaft, während er auf die zitternde Arinaya zutrat. Sie weinte noch immer.
„Irgendjemand muß Marthian ja erzählen, wo er dich findet“, höhnte der Dämon dann und wob einen Zauberspruch. Ohne auch nur einen Finger krumm zu machen, fesselte und knebelte er Arinaya durch Magie und packte sie mit seiner riesigen Klaue. Sie spürte dort einen dumpfen Schmerz, wo er sie berührte. Sie mußte sich mit aller Willenskraft dazu zwingen, ihm zu folgen. Es war besser so. Wenn sie wollte, daß Kortas am Leben blieb, hatte sie keine Wahl.
Kaliron lauschte derweil entsetzt auf das, was sich auf dem Flur vor den Fremdenzimmern abspielte. Auf einem Arm hielt er Kortas, der leise wimmerte, mit der anderen Hand umklammerte er sein Schwert.
Nur langsam begriff er, warum Arinaya das getan hatte. Sie mußte. Sie hatte ganz recht, wenn Zartokh Kortas in seine Gewalt gebracht hätte, hätte er ihn getötet und nur sie als Geisel behalten. Sein Rachedurst war zu groß. Er würde Marthian brechen, wenn er konnte, und das war eine perfekte Möglichkeit.