Leseprobe: Prolog

„Sind sie immer noch hinter uns?“
Araldo gab keine Antwort. Er zog nur seine Jacke enger um den Leib und tastete nach dem Umschlag, der in seiner Hemdentasche steckte. Natürlich waren sie ihnen noch auf den Fersen, daran bestand kein Zweifel. Das Gestrüpp dieses Waldes war so dicht, daß sie auf ihrer Flucht einfach Spuren hinterlassen mußten.
Kyrin drehte sich kurz um. Keuchend starrte er in die Finsternis. „Ich konnte sie nicht entdecken“, wisperte er angespannt.
„Das muß nichts heißen“, war Araldos einzige Antwort. Er hastete weiter zwischen zwei himmelhohen Bäumen hindurch, während Kyrin unbewußt nach seinem Schwert tastete. Der nächtliche Wald, erfüllt von den Schreien wilder Kreaturen, behagte ihm nicht besonders. Schlimmer war jedoch das Wissen darum, daß die Handlanger des Königs ihm und seinem großen Bruder auf den Fersen waren. Ein Schatten zog mit lautlosen Schwingen an ihm vorbei. Fast hätte er Araldo aus den Augen verloren, da dieser sich weitaus schneller bewegte.
„Warte“, rief er gedämpft. Ungeduldig wandte Araldo sich zu seinem jüngeren Bruder um und zischte: „Wenn du ständig nach ihnen suchst, läufst du ihnen noch in die Arme!“
Kyrin konnte nichts erwidern. Er wischte sich über die schweißnasse Stirn und lauschte auf das Rasen seines eigenen Herzens. In den Ohren hörte er sein Blut rauschen. Mit jedem Schritt, den er voraneilte, ließ seine Kraft weiter nach. Die Luft brannte in seinen Lungen, in seinen Seiten spürte er schmerzhafte Stiche – doch falls er stehenblieb, war er so gut wie tot. Plötzlich prallte er gegen den Rücken seines Bruders, der darum kämpfen mußte, durch den Aufprall nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Kannst du nicht aufpassen?“ stöhnte Araldo und wies auf das, was sich vor ihm befand. Er stand am Rand einer tief aufklaffenden Schlucht, an deren Grund ein Fluß schäumend in Richtung Norden rauschte.
Kyrin schnappte nach Luft. Ohne etwas zu sagen, wandte Araldo sich nach Norden und rannte unterhalb der Bäume an der Schlucht entlang. Atemlos folgte Kyrin ihm, doch unerwartet riß irgendetwas ihm den Boden unter den Füßen weg. Fluchend prallte er zwischen Moosen und Farnen auf.
„Komm schon!“ rief Araldo. Mühsam rappelte Kyrin sich auf und fuhr herum. Ein Schrei war an seine Ohren gedrungen. Auch Araldo hatte ihn gehört. Ein zweiter, deutlicherer Ausruf folgte. „Sie müssen dort drüben sein!“
„Verdammt“, fluchte Araldo und packte seinen Bruder an der Schulter, um ihn mit sich zu ziehen. Er schlug sich voran ins Dickicht des Weltenwaldes hinein und wollte gerade noch etwas hinzufügen, als er plötzlich weitere Stimmen aus der gegenüberliegenden Richtung vernahm.
„Wir sitzen in der Falle“, flüsterte Kyrin. Mucksmäuschenstill krochen sie zwischen einigen Dornenbüschen hindurch. Leichte graue Nebelschwaden zogen an den Bäumen vorbei und hüllten die beiden schwer atmenden Flüchtlinge schützend ein. In der Nähe bahnte sich jemand mit raschelnden Schritten einen Weg durchs Unterholz. Kyrin hielt die Luft an, während Araldo geräuschlos sein Schwert zog. Wenn er die Anzahl der Verfolger richtig geschätzt hatte, waren sie ihnen zehnfach überlegen. Die beiden jungen Männer hörten, wie sie immer näher kamen, sie regelrecht zu umzingeln schienen. Geräuschlos stand Araldo auf.
Alles wurde mit einem Mal seltsam still. Kyrin hielt den Atem an und wandte den Blick nach oben zu seinem großen Bruder. Araldo war am ganzen Körper angespannt. Nichts rührte sich, bis plötzlich ein Sirren die Luft zerriß. Der Aufprall ließ Araldo rücklings gegen einen Baum taumeln. Ein schmerzerfülltes, gedämpftes Stöhnen entwich ihm. Er wandte langsam den Blick nach unten und starrte auf den Pfeil, der in seinem Herzen steckte. Kyrin biß sich auf die Zunge, um sich nicht durch einen Schrei des Entsetzens zu verraten, doch er sprang auf. Wiederum hörte er ein gefährliches, leises Sirren und wurde von seinem Bruder zur Seite gestoßen. Zwei weitere Pfeile waren auf die beiden gezielt worden, von denen einer in Araldos Schulter steckenblieb.

„Jetzt haben sie mich“, stieß Araldo mit heiserer Stimme hervor, als Kyrin ihn vorsichtig auf den Boden bettete.
„Red keinen Unsinn!“ erwiderte er fast flehentlich. Er mußte jedoch nur auf den Blutfleck schauen, der sich auf Araldos Hemd ausbreitete, um die Schwere der Verletzung zu begreifen. Araldo griff mit zitternder Hand nach dem Umschlag in seiner Jacke. Dieser war voller Blut, als er ihn Kyrin mit glasigem Blick in die Finger drückte.
„Es ist vorbei. Laß mich hier, du kannst noch fliehen. Du mußt fliehen!“
„Nein, Araldo, du bist mein Bruder, ich habe nur noch dich!“ Kyrin schluckte hart. Die Schritte der Verfolger näherten sich.
„Ich weiß. Paß gut auf dich auf, Kleiner. Du mußt allein weiter nach Elinas! Los doch!“
Kyrin nickte. Vor seinen Augen verschwamm alles, doch er sprang auf und wandte einen letzten Blick zu seinem Bruder hinab. Er stieß einen verzweifelten, gepeinigten Schrei aus, dann sprang er mit einem Satz über die Dornenbüsche und hechtete in die Nacht hinaus, während ihm Pfeile hinterherjagten.
„Schnappt ihn euch, da vorn läuft er!“ brüllte einer hinter ihm her. Diesmal wandte Kyrin sich nicht um, sondern rannte, so schnell seine Beine ihn trugen. Bäume und Gestrüpp flogen geradezu an ihm vorbei, bis er den Waldrand erreichte. Zumindest schien es ihm so, doch dann wußte er plötzlich, wo er war. Er stand wieder vor der Schlucht, an deren Grund der Fluß dahinströmte. Ein Pfeilhagel ergoß sich über und neben ihm. Die Schreie von fast zwei Dutzend Feinden erschallten hinter ihm im Wald. Keuchend blickte er nach vorn und schluckte, als er die Tiefe des Flußbettes unter sich zu schätzen versuchte.
Dann schloß er die Augen und machte einen Schritt ins Leere, bevor er sich dem freien Fall ergab.