Leseprobe 1: Der Beschluß

Ein nicht allzu großer, weißhaariger Mann öffnete ihnen. Er hatte große Geheimratsecken und sehr kurze, weiße Haare. Stahlblaue Augen musterten die jungen Leute. Er trug keinen Bart und ein einfaches, kariertes Hemd. Arinaya staunte, denn sie hatte ihn sich anders vorgestellt.
Die Katze kam von rechts und schnurrte um die Beine des Mannes. Dieser nahm besonders Arinaya kritisch in Augenschein und fragte: „Wie kann ich euch behilflich sein?“
„Seid Ihr Vikormos?“ erkundigte sich Marthian.
„Wenn du die Förmlichkeiten beiseite läßt, bin ich das“, erwiderte der Alte mit einem Lächeln. „Ihr sucht mich?“
„Wir hörten, Ihr seid ein Gelehrter und in Geschichte sehr bewandert“, erklärte Marthian.
„Kommt nur herein“, sagte Vikormos und trat zur Seite. Zuerst einmal stellten die Kameraden sich namentlich vor, ehe sie der Aufforderung nachkamen. Marthian ließ Arinaya den Vortritt, die sich in der altmodischen Einrichtung neugierig umschaute. Mitten im Raum stand ein runder Tisch mit vier Stühlen. Der Raum wurde schier erdrückt von dunklen, großen Bücherregalen, die bis zum Platzen vollgestopft angefüllt waren. Von diesem Zimmer ging ein Flur ab, der zu einer Küche führte.
Die Katze sprang wieder auf die Fensterbank. Vikormos bat die jungen Leute, Platz zu nehmen und holte ihnen Krüge mit Wasser, ohne überhaupt gefragt zu haben. Marthian bedankte sich erfreut und Arinaya lächelte ein wenig schüchtern.

Vikormos ließ sich den beiden gegenüber auf einen Stuhl sinken. „Eine junge Frau trägt Hemd, Hose und Waffen. Warum?“
„Ich werde verfolgt“, sagte Arinaya. „Wir stammen aus Kimorha und sind auf der Flucht vor dem Ersten Berater unseres Königs. Er hofft darauf, Maios‘ Tochter zu finden, wenn sie denn lebt. Mein Verbrechen ist es, zum Höhepunkt der Großen Konjunktion vor fast zwanzig Jahren geboren zu sein.“
Für einen Augenblick sagte Vikormos nichts, er knetete nur nachdenklich seine Finger. Dann sah er Arinaya fest an. „Weißt du von der falschen Datierung?“
„Ja“, sagte sie. „Ich dachte stets, ich sei nur während der Konjunktion geboren, bis ein Freund mir von der falschen Datierung erzählte. Und Linthizan scheint das auch zu wissen.“
Vikormos seufzte. „Dir stellt also ein Adliger, ein mächtiger Mann, nach? Glaubt er, Maios‘ Tochter lebt ausgerechnet zu unserer Zeit?“
„Das tut er wohl“, sagte Marthian. „Ihre Verfolger wollten mich und einen Kameraden schon töten, um sie zu schnappen. Linthizan hofft auf einen unsterblichen Erben.“
„Was der größte denkbare Machtfaktor wäre“, murmelte Vikormos. „Als Vandhru war es Maios gegeben, auch als der Vater sein Kind zu spüren – besonders intensiv, wenn man so will. Er war in der Lage, ihm so nah zu sein und das Kind so deutlich wahrzunehmen, daß er bereits früh wußte, daß ihm eine Tochter geschenkt würde. Wir wissen davon, weil er vor Beginn der großen Schlacht gegen die Truppen seines Königs rief, daß er seine Frau und seine Tochter rächen wollte. Das ist überliefert worden. Und anders als die Menschen machten die Vandhru nie einen Unterschied zwischen Mann und Frau. Ich hätte es schön gefunden, wenn die Menschen bei ihrer Suche nach Maios‘ Tochter diese Wertschätzung der Vandhru übernommen hätten, aber dazu kam es leider nicht. Ich habe davon gelesen, daß schon damals bei der ersten Suche nach ihr die Mächtigen aller Länder darüber in Streit gerieten, wem wohl diese Tochter der Menschen und Vandhru zueigen sein sollte. Jeder wünschte sich einen unsterblichen Erben, um seine Linie zu stärken und seine Macht zu untermauern. Linthizan unterscheidet sich in nichts von diesen Männern. Ihm ist klar, daß eine unsterbliche Frau und ein ebenfalls unsterblicher Sohn – bestenfalls – ihn zum mächtigsten Mann auf diesem Kontinent machen dürfte.“

Arinaya und Marthian lauschten gebannt den Ausführungen des Gelehrten. Er machte eine kurze Pause. „Linthizan hat dir also nachgestellt?“
„Nicht nur mir“, sagte Arinaya. „Aber wie es scheint, bin ich die einzige, die ihm bislang entkommen ist.“
„Also hat er bereits Mädchen gefunden, die ebenfalls in Frage kämen?“
„So sagte die Minjora“, antwortete Marthian.
„Das ist gar nicht gut“, seufzte Vikormos. „Du bist neunzehn, Arinaya?“
„Ja.“
„Ich habe viel über die Suche nach Maios‘ Tochter gelesen. Es wurde angenommen, daß sich während ihrer Jugend die ersten Merkmale ihrer unsterblichen Abstammung zeigen würden. Zwar hatte es noch nie einen Menschen gegeben, der halb Vandhru ist, aber auch bei den Vandhru zeigen sich manche Merkmale erst recht spät, die Katzenaugen zum Beispiel. Aber da auch niemand wußte, wie sie überhaupt zur Welt kommen sollte, wurden nur Vermutungen über Erscheinungsbild angestellt. Die Menschen gingen davon aus, daß sie zuerst keine Unterschiede zeigen würde, sich aber während ihrer Jugend etwa der fünfte Finger zurückbilden und sie ebenfalls Katzenaugen bekommen würde. Auch die magischen Fähigkeiten entwickelten sich bei Vandhru recht spät. Du bist mittlerweile erwachsen, Arinaya. Hast du jemals Veränderungen an deinen Augen, Händen oder deiner Wahrnehmung gespürt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Und ich bin kein Findelkind.“
„Ja, richtig“, sagte Vikormos. „Aber selbst wenn du es nicht bist, wirst du solange keinen Frieden haben, wie die Richtige nicht gefunden ist. Ich halte es für möglich, daß sie lebt, denn ich weiß, daß die alten Überlieferungen wahr sind.“
„Aber wie kann ich herausfinden, ob ich es bin?“
Vikormos überlegte ein wenig und schwieg, ehe er sagte: „Die Vandhru waren begierig darauf, zu erfahren, wie ihre Zukunft aussehen würde. Denn immerhin hatten sie ja ein ziemlich langes Leben! Ihre Hauptstadt war damals auf der Trauminsel im Weltensee errichtet. Inzwischen ist nichts mehr davon zu sehen, die Dunkelflossen haben diese Gegend als ihre Heimat erobert. Aber die Vandhru errichteten am Nordufer des Sees, für viele zu erreichen, den Tempel der unendlichen Zeit. Sie erfüllten eine Kugel mit magischen Kräften, die dann tatsächlich zutreffende Zukunftsprognosen stellte. Auch in vielen anderen Dingen wurde dieses Orakel um Rat gefragt. Meines Wissens existiert es noch, auch wenn der Tempel mittlerweile nicht mehr sein dürfte als eine von Dunkelflossen bewohnte Ruine. Ich kann dir keine Antwort geben, Arinaya. Aber wenn du dorthin reisen willst, wirst du eine Antwort erhalten. Heute heißt er Tempel des unendlichen Schlummers. Kein schöner Ort, und die Reise dorthin ist gefährlich. Aber dann hast du Gewißheit.“
„Also ist es alles wahr“, murmelte Arinaya.
„Sicherlich. Du scheinst dir ja darüber im Klaren zu sein, was dich verfolgt. Kannst du mit deinen Waffen umgehen?“
„Ich lerne es gerade.“
„Du wirst sie beherrschen müssen, wenn du dich wirklich auf den Weg zum Weltensee machen willst. Ihr werdet um den Flammenriss nicht herumkommen, aber hütet euch vor der Schwelle des Todes. Es heißt, dort haben die Dunkelschleicher ihre Brutstätte. Vor allem aber solltet ihr euch von Bergen und finsteren Ecken fernhalten. Wenn ihr mit Lebenshäschern zusammentrefft, dürft ihr euch keine Hoffnung mehr machen.“
„Wir haben nicht einmal eine Karte“, merkte Marthian an.
„Oh, ich kann euch eine geben. Und wenn ihr gehen wollt, werde ich euch erzählen, was euch auf eurer Reise erwartet.“
„Und wenn das Orakel mir sagt, daß ich es bin? Was dann? Ich würde magische Kräfte entwickeln. Damit könnte ich niemals umgehen!“ sagte Arinaya.
„Ja, das ist richtig. Soweit ich weiß, gibt es in Vanojda eine riesige Bibliothek, in der Hauptstadt Zhinjona. Es heißt, dort würden Schriften aufbewahrt, die sich der Magie der Vandhru widmen. Wenn das so ist, würde ich diese Schriften gemeinsam mit dir studieren und dich die Beherrschung der Magie lehren.“
„Das würdet Ihr tun?“ Arinaya konnte es kaum fassen.