Leseprobe: Der unscheinbare Fremde

Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich noch immer schwankend an. Das Wasser war nicht sein Element, und dementsprechend erleichtert war er, endlich wieder festen Boden betreten zu haben. Rauchschlieren zogen ihm entgegen, als er die massive Tür in die dämmrige Welt der Schankstube aufstieß, als habe sie kein Gewicht. Die Temperatur war im Gebäude gleich der Außentemperatur, aber der Rauch, der Alkohol und der Schweiß der heimkehrenden Fischer und Hafenarbeiter mischten sich zu einer eigenartigen Schwüle. Seine unter vorstehenden, buschigen Augenbrauen liegenden schwarzen Augen musterten die Szenerie eingehend und interessiert.
Bärtige, bäuchige Männer säumten die Theke. Schwielige Hände erhoben große, tönerne Krüge, Pfeifenrauch kräuselte sich in den letzten Sonnenstrahlen, die in den Raum hineinfielen. Aus einer hinteren Ecke wallte schallendes Gelächter in den Raum. Junge Burschen lümmelten sich um einen großen Tisch und warfen der Bedienung eindeutige Blicke zu. Er konnte ihre Lüsternheit förmlich in ihrem Atem spüren. Andere verzehrten heißhungrig und ohne Sinn für gute Manieren die deftige Kost, die ihnen serviert wurde. Erst jetzt wurde ihm der zusätzlich scharfe Fischgeruch bewußt.
Noch immer ratlos im Eingangsbereich stehend, ließ er weiter seine Blicke schweifen, bis ihm ein freier Hocker an der Theke ins Auge fiel. Sein Sinn stand vor allem nach zwei Dingen: einem Bier, um die Braukunst der Menschen zu prüfen, und vor allem nach einem interessanten Gespräch. Letzteres war sicher nirgends besser zu finden als in einer solch belebten Pöbelspelunke, wie er sie hier im Hafen Karallions entdeckt hatte.
Sich nur schwerlich an den menschlichen Gang gewöhnend, schlenderte er absichtlich schlenkernd hinüber und ließ sich auf den Hocker sinken. Zwischen seinen Brauen gruben sich Furchen in die ledrige, sonnengegerbte Haut. Einzig an seinem strengen Körpergeruch hatte er nichts ändern müssen, denn nach der langen Reise konnte er nur aufdringlich riechen. Auch seine schwarzen Augen waren ihm ureigen, nicht so jedoch das kantige Kinn, die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen. Der derben bäuerlichen Art angemessen trug er ein zerschlissenes und verschmutztes kariertes Leinenhemd und eine Lederhose, in der er unnatürlich stark schwitzte. Er war das Tragen solcher Kleidung nicht gewohnt.

„Was wünscht Ihr?“ erkundigte sich das Mädchen hinter der Theke sogleich. Flüchtig musterte Rhazul sie, um zu ergründen, was die Burschen so begierig an ihr begafft hatten. Er entdeckte jedoch an ihr nichts von besonderem Interesse, genau wie er erwartet hatte.
„Einen Krug Bier“, sagte er, dann nahm er seinen Nachbarn interessiert in Augenschein. Dieser erwiderte seinen Blick nach einem kurzen Moment und nickte ihm freundlich zu.
„Stammt nicht von hier, was?“ fragte er.
„Nein. Ich komme aus Rimonas. War eine lange Reise hierher!“ erwiderte Rhazul und starrte an die gegenüberliegende Wand.
„So, aus Rimonas. Ja, seit einigen Jahren hört man so etwas wieder öfter.“
Rhazul wandte sich wieder dem neben ihm sitzenden, dunkelhaarigen Mann zu. Und schon war er auf etwas gestoßen, das er noch nicht wußte.
„Ja, so ist das“, sagte er geflissentlich. „Wurde auch langsam Zeit, nicht?“
„Ja, da sagt Ihr was! Daß man uns hier einfach vergessen würde! Aber so einer seid Ihr nicht, oder? Ihr seid ja hier! Habt den weiten Weg über die neue Darlinodstraße hinter Euch gebracht. Was führt Euch her?“
Rhazul überlegte kurz. Er wußte, daß Elinas durch das Sichelgebirge von seinem Nachbarn Rimonas getrennt war, aber was hatte den Weltenwald so wuchern lassen, daß es erst jetzt eine neue Straße dort hindurch gab?
„Ich bin Bauer und Händler. Ich habe beschlossen, hier neues Saatgut und Vieh zu erstehen.“
„Ein Bauer in Rimonas? Ihr stammt wohl aus einer fruchtbaren Gegend!“
„Sicher. Sagt, wißt Ihr wohl, ob man in der Hauptstadt in solchen Belangen fündig wird?“
„In Megelion? Das glaube ich kaum. Die Hauptstadt ist die Stadt des Königs. Dort gibt es wenig bäuerliches Treiben. Aber es gibt viele andere sehenswerte Dinge!“
„So?“ Rhazul lauschte auf. Seine Täuschung schien aufzugehen. „Welche wären das?“
„Oh, den Palast natürlich, und die Mahnmale des letzten Krieges. Eure Unterstützung hat unser Volk und unseren König zum Sieg geführt! Er ist ein tapferer Bursche. Habt Ihr je von ihm gehört?“
„Nicht direkt.“

„Er ist jünger als ich! Seit kurzem zählt er siebenundzwanzig Sommer, aber er ist seinem Alter unangemessen unerschrocken, tapfer und weise. In seinen Adern fließt das reinste königliche Blut. Er führt Elinas zurück ins Licht!“
„Das war ja nicht so selbstverständlich“, mutmaßte Rhazul.
„Nein, durchaus nicht. Es gehörte Mut dazu, Drognan zu stürzen und kurz darauf ein armes Bauernmädchen zu heiraten! Aber sie wurde zu einer wundervollen Königin. Das Volk liebt sie wie der König selbst. Vor kurzem hat sie ihm ein zweites Kind geboren, eine Tochter. Seither bekommt man den König kaum noch zu Gesicht!“
Eifrig bemüht, sich seine vielen Fragen nicht anmerken zu lassen, lauschte Rhazul seinem Nachbarn, der langweiliges Zeug erzählte, bis er plötzlich doch wieder auf etwas äußerst Interessantes zu sprechen kam. „Es herrschen andere Sitten, aber so ist das nun einmal. Es wird schon seinen Sinn haben, denn immerhin leitet ihn der Kristall! Er war es, der ihn zurückgebracht hat!“
„Ja, natürlich. Welch eine aufregende Geschichte! Man munkelt so allerhand darüber, denn der Kristall ist doch ein so wichtiges Symbol!“ erwiderte Rhazul in natürlichem Eifer. Endlich erfuhr er etwas über das Objekt seiner Begierde!
„Er hat Elinas gefehlt, seit er fort war. Seht ihn Euch an! Er ist für jedermann zugänglich in eine Statue eingelassen, die vor dem königlichen Palast in Megelion steht. Ein prächtiges Stück. Man sieht ihm die Zerstörung nicht an!“
Zerstörung? Rhazul spürte, daß er weiterhin Augen und Ohren offenhalten mußte. Er erfuhr hier Dinge, von denen er niemals etwas geahnt hätte. Doch sollte es tatsächlich so einfach sein? Konnte er ohne Schwierigkeiten nach Megelion gehen, unerkannt in der Gestalt eines Menschen, um sich den Kristall zueigen zu machen?
In seinen finsteren Augen blitzte ein kurzes Aufflackern von Gier. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, blieb er noch kurz sitzen, dann warf er eine seiner ergaunerten Münzen auf die Theke und erhob sich, um die Schankstube zu verlassen. Bardor und Merengar saßen mit ausdruckslosen Mienen auf einer kleinen Mauer und hüteten die Pferde. Sie trugen die gleiche nichtssagende Kleidung wie Rhazul selbst, einzig in ihrem Gesicht offenbarte sich etwas, das ihre nichtmenschliche Herkunft verriet. Ihr langes dunkles Haar hing den beiden hochgewachsenen Kerlen in die Stirn. Zusammengesunken saßen sie nebeneinander, doch nun, da Rhazul sich so vielen Menschen gegenübergesehen hatte, fiel ihm ihre enorme Größe sofort ins Auge. Als sie seine schweren Stiefel schleifen hörten, hoben sie die Köpfe. Ihre Pupillen verengten sich beim Einfall des Sonnenlichts.

„Vermeidet es, die Menschen direkt anzusehen“, mahnte Rhazul, noch bevor er etwas anderes sagte.
„Fällt es sehr auf?“ fragte Merengar, der grobschlächtige Schwertkämpfer, den er als einer der ersten angeworben hatte.
„Die Menschen haben andere Augen, keine schlitzförmigen Pupillen wie wir.“ Rhazul bezog sich mit ein, obwohl er menschliche Gestalt angenommen hatte – bis ins kleinste Detail.
„Das habe ich noch gar nicht bemerkt!“ stellte Bardor fest. „Aber warum zauberst du uns nicht auch Menschenaugen?“
„Eine berechtigte Frage. Aber da ihr euch ohnehin im Hintergrund halten werdet, ist das nicht so schlimm. Und ich finde es wichtiger, daß ihr gut seht, denn daß Menschen es tun, kann ich nicht gerade behaupten!“ Damit war die Diskussion für Rhazul beendet. Er saß auf, bevor Merengar fragte: „Wohin gehen wir jetzt?“
„Nach Megelion. Das ist die Hauptstadt. Ich habe mir den Weg erklären lassen. Ob ihr es glaubt oder nicht, der Kristall befindet sich dort vor dem königlichen Palast ungeschützt in einer Statue!“
Ungläubig starrten seine Männer Rhazul an, während sie aufsaßen und ihre Pferde ebenfalls in langsamen Trab versetzten.
„Wer kann so dumm sein?“ fragte Bardor.
„Das hat mit Dummheit nichts zu tun, und wertgeschätzt wird er auch. Ich kenne den Grund nicht, es könnte auch ein Trick sein. Aber zuerst werde ich mir das ansehen.“
Merengar und Bardor zuckten mit den Schultern. Sie würden ihm folgen, erleichtert darüber, nicht wie die anderen auf dem Schiff zurückgelassen worden zu sein. Sie würden in der folgenden Zeit genügend damit zu tun haben, den großen Zweimaster zu verstecken, denn obwohl er außerhalb von Karallion lag, war es nur eine Frage der Zeit, bis das Hochseeschiff irgendjemandem ins Auge stach. Vor allem aus einem Grunde: In ganz Karallion hatte Rhazul kein ähnlich großes Schiff entdeckt, und das ließ darauf schließen, daß man in Elinas einfach keine großen Schiffe baute. Kein Wunder, daß man in Maronna nichts von ihnen wußte, dachte Rhazul kopfschüttelnd bei sich.