Leseprobe: Der Feind schläft nicht

Schon der zweite ereignislose Tag näherte sich seinem Ende. Gelangweilt saßen Arinaya und Marthian im Dämmerlicht des Kerkers und vertrieben sich die Zeit, indem sie sich einen Namen für ihr Kind überlegten – sowohl einen Mädchen- als auch einen Jungennamen. Damit verbrachten sie unendlich viel Zeit und waren froh drum. Mekhan und Kortas hatten gelegentlich nach ihnen gesehen und Kortas hatte berichtet, daß es noch keine Neuigkeiten gab, was keinen sonderlich freute.
„Du kannst sagen, was du willst, aber mir gefällt Arminea“, beharrte Marthian und hob grinsend eine Augenbraue.
„Reg mich nicht auf. Mein Kind wird so nicht heißen! Vor allem könnte es auch ein Junge sein“, erwiderte Arinaya. Doch wenigstens, was den Jungennamen anging, waren sie sich einig: Er würde Tarinas heißen.
„Und wie willst du deine Tochter nennen?“ spottete Marthian. „Doch nicht etwa Vikira?“
Arinaya streckte ihm die Zunge heraus. Blieb zu hoffen, daß sie einen Jungen bekamen, sonst hatten sie ein Problem. Timenor war ja auch schon vergeben.
Das Abendessen war längst vorüber und eigentlich rechneten sie nicht mehr mit Besuch, doch plötzlich wurde die Tür geöffnet und Kortas kam herein.

„Was gibt es?“ fragte Marthian neugierig, als er den Vandhru vor der Zelle sah.
„Merevas war bei mir. Um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, habe ich mich mit ihm auf eine Übergabe übermorgen Mittag geeinigt.“
„Tatsächlich?“ rief Arinaya. „Er war hier?“
„In der Stadt in einem Gasthaus. Er mißtraut mir und das verstehe ich auch. Er wollte wissen, was der Grund ist, aber ich wollte es ihm so nicht sagen. Er erfährt es ja von euch. Ein Goldschmied will ein Schmuckstück als Lösegeld anfertigen. Das muß sein, damit der König mir nicht den Kopf abreißt. Aber es klappt schon alles.“
„Das ist ja wunderbar“, freute Marthian sich.
„Mir gefällt es auch. Dann habe ich eine Sorge weniger, genau wie ihr. Ich glaube fast, ihr werdet mir fehlen.“ Kortas grinste.
„Und das sagst du“, stimmte Marthian lachend ein.
„Also, ihr wißt Bescheid. Es ist nicht mehr lang. Gute Nacht.“ Kortas verneigte sich höflich und ging.
Arinaya freute sich fast noch mehr als Marthian. Sie konnte kaum glauben, was sich ereignet hatte. Kortas ließ sie wirklich frei! Merevas würde sie holen und alles wurde wieder gut. Sie würde ihren Bruder und Lelaina wiedersehen!
„Ich bin froh, daß Kortas so ist. Aber ich würde gern erfahren, was ihn bewegt. Ob wir das noch schaffen?“
Arinaya zuckte mit den Schultern. „Wir fragen ihn einfach, bevor wir gehen. Morgen. Was meinst du?“
Marthian nickte. Gähnend schlang er die Decke um seine Schultern und lehnte sich an die Wand. Arinaya setzte sich neben ihn und machte es sich gemütlich. Es war noch nicht recht Schlafenszeit, aber sie hatten ohnehin nichts zu tun. Fröhlich dachte sie darüber nach, daß sie bald wieder bei den anderen war. Sie sah ihren Bruder wieder. Sie würde ihnen erzählen, daß sie nun auch ein Kind bekam. Das würde besonders Kaliron sehr amüsieren. Seufzend träumte sie davon, wie schön das wohl sein würde.

Sie saß im Halbschlaf an Marthian gelehnt, als sich die vorderste Kerkertür quietschend öffnete. Sie blinzelte müde und lauschte auf die Stimmen, die durch den Gang hallten.
„Unser Herr Zartokh hat mit Herrn Kortas gesprochen. Er zeigte sich einverstanden, uns die menschlichen Gefangenen zu überlassen.“
Als sie das hörte, zuckte sie zusammen und richtete sich auf. Marthian schlug die Augen auf und sah sie fragend an.
„Ich würde mich dessen gern vergewissern“, wandte der Wächter ein.
„Das ist nicht nötig. Gebt uns die Schlüssel.“
„Aber sie sind wichtige Gefangene. Er würde nicht wollen, daß Ihr sie holt!“
Angespannt lauschten beide und vernahmen das Geräusch klirrenden Metalls, ehe ein Stöhnen die unheimliche Stille erfüllte. Sie hörten, wie jemand zu Boden ging und sahen einander erschrocken an. Sofort sprang Marthian auf. Schritte näherten sich, dann erschienen verhüllte Gestalten vor der Zelle. Sie alle trugen helle Umhänge. Marthian drängte sich vor Arinaya und versuchte, seiner Angst Herr zu werden, als einer der Männer das Türschloß aufsperrte. Sie betraten die Zelle und umstellten die beiden Gefangenen.
„Es ist also wahr“, sagte der vorderste der Männer. Er hatte stechende, helle Augen und pechschwarzes Haar. Seine Begleiter trugen Kapuzen, so daß ihre Gesichter kaum zu erkennen waren.
„Was wollt Ihr?“ fragte Marthian mit zitternder Stimme. „Wovon sprecht Ihr?“
„Von dem Kind, das sie unter dem Herzen trägt“, erwiderte der Vandhru und grinste finster in Arinayas Richtung. Mit einem Male war ihre Kehle wie zugeschnürt.
„Wagt es nicht, Hand an meine Frau zu legen!“ rief Marthian und griff rücklings nach Arinayas eiskalter Hand. In diesem Moment schnellten die anderen Männer vor und zerrten ihn in eine andere Ecke. Arinaya wich zitternd an die Wand zurück.

„Wer seid ihr?“ fragte sie leise.
„Ihr habt noch nicht von unserem Herrn Zartokh gehört, dem Herrn der Gesegneten?“
Marthian spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Er hatte irgendwann aufgeschnappt, daß die Abtrünnigen sich selbst die Gesegneten nannten. Während er von zwei Männern an den Armen gehalten wurde, beobachtete er mit einem Schaudern, wie der Sprecher vortrat und eine Hand an Arinayas Kinn legte. Sie ballte die Hände zu Fäusten und starrte ihn reglos an.
„Ihr werdet uns sehr nützlich sein“, sagte der Mann mit dem eiskalten Blick. „Los, fesselt sie.“
„Nein!“ brüllte Marthian und wehrte sich aus Leibeskräften, aber es hatte keinen Sinn. Wie Arinaya wurde er bäuchlings an die Wand gedrückt und gefesselt. Zu Tode erschrocken dachte er daran, wer die Abtrünnigen waren. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Kortas konnte das nicht wollen!
Er nahm allen Mut zusammen und rief so laut um Hilfe, wie er konnte. Die Antwort war ein harter Fausthieb gegen die Wange, der ihn so hart traf, daß der Schmerz bis in seine Zähne aufflammte. Halb benommen wurde er geknebelt und aus der Zelle geschleift. Arinaya erging es nicht besser. Auf dem Gang sah er den Wächter bewußtlos liegen.
Keuchend kämpfte er darum, losgelassen zu werden, aber er hatte keinen Erfolg. Sie wurden nach oben gebracht und durch die Seitentür auf den Hof gezerrt, wo eine große Kutsche stand. Weitere Abtrünnige standen dort und öffneten sofort die Tür, als sie Arinaya und Marthian entdeckten. Rasch wurden sie in die Kutsche gestoßen, die sich anschließend gleich in Bewegung setzte.
Ein zartes Licht magischen Ursprungs erhellte den Innenraum der Kutsche. Zwei Männer und der Wortführer aus dem Kerker saßen Arinaya und Marthian gegenüber. Die Angst der beiden jungen Menschen hing unausgesprochen und deutlich für die Vandhru spürbar in der Luft.
„Herr Zartokh wird sich sehr freuen, Merkil. Das habt Ihr hervorragend gemeistert. Ist es wahr, was behauptet wurde?“ sagte einer der beiden vermummten Männer.
„Ja, das ist es. Spürt Ihr es denn nicht?“ erwiderte Merkil. Er richtete sich auf und ging vor Arinaya in die Hocke, die ihn ängstlich ansah. Marthian ballte die Hände zu Fäusten und biß die Zähne zusammen, ehe seine Furcht übermächtig wurde. Hilflos mußte er mitansehen, wie Merkil die Hand ausstreckte und auf Arinayas Bauch legte. Ihr entfuhr ein erstickter Schrei. Sie zappelte wie wild, aber davon ließ Merkil sich nicht beeindrucken.
Mit Tränen in den Augen starrte sie ihn an, während er versonnen lächelte und sich zu den anderen umdrehte. Seine Hand erschien ihr unnatürlich warm.
„Es ist ein junges, starkes Leben. Sie ist genau das, was Herr Zartokh sucht.“
Marthians Augen weiteten sich, während Arinaya in sich zusammensank und sich fragte, was er damit wohl gemeint haben könnte. Es würde gewiß nichts Gutes sein.

„Sie haben was?“ brüllte Kortas, außer sich vor Wut.
„Ich wollte sie aufhalten, mein Herr, aber da haben sie mich bewußtlos geschlagen. Als ich zu mir kam, waren die Gefangenen fort“, erklärte der Wächter kleinlaut. Er rieb sich den schmerzenden Nacken.
„Und sie haben behauptet, ich würde sie Zartokh überlassen? Der bringt die beiden doch um! Ich brauche sie aber lebend, als Gefangene! Er muß völlig närrisch sein! Das ist doch nicht sein Ernst, meine Gefangenen zu stehlen!“
„Er will sie töten?“
„Nein, ich denke nicht, daß er sie töten will. Aber das wird passieren, wenn er an ihnen das ausprobiert, was ihm auf der Seele brennt. Vor allem das Mädchen ist in Gefahr. Vermutlich bin ich es selbst schuld, ich mußte ja dem Koch erzählen, daß sie schwanger ist. Sie trägt die doppelte Lebensenergie in sich. Das ist für Zartokh ideal.“
„Sprecht mit dem König. Verlangt sie doch zurück!“ schlug der Wächter vor.
„Ach, Unsinn! Zartokh gibt sie nicht mehr her. Welch ein Affront! Nein, ich muß mir jetzt selbst ausdenken, wie ich verhindere, daß Merevas davon erfährt. Ohne die beiden Gefangenen habe ich nichts in der Hand, und ich bezweifle, daß er mir glaubt, daß die beiden geraubt wurden.“ Nervös lief Kortas im Raum auf und ab.
„Es tut mir wirklich leid, mein Herr. Ich wollte Euch zuerst fragen, aber dazu ließen sie es nicht kommen.“
„Es ist nicht dein Fehler. Sie hatten das geplant, ich weiß. Zartokh ist doch wahnsinnig. Er riskiert den Unmut des Königs und Streit mit mir, nur wegen den beiden! Er wußte, daß ich sie ihm nicht überlassen würde. Also weiß er genau, daß sie sterben könnten.“

Kortas ließ den Wächter kurz darauf einfach stehen und stapfte wutentbrannt durch den Palast. Er wußte nicht genau, wo der König sich aufhielt, aber davon mußte er erfahren. Das konnte auch nicht in seinem Sinne sein. Zumindest verlangte er, fest davon überzeugt, Einlaß in die Privatgemächer des Königs und wurde auch von ihm empfangen.
„Was gibt es?“ erkundigte der Monarch sich fast beiläufig.
„Mein Herr“, begann Kortas und verneigte sich höflich. „Soeben ließ Zartokh die beiden Gefangenen aus dem Kerker rauben. Der Wächter wurde überwältigt. Die beiden sind fort.“
Überrascht blickte der König auf. „Tatsächlich?“
„Ja. Stellt Euch das nur vor, Majestät! Sie waren unser wichtigstes Faustpfand gegen Merevas. Wenn er davon erfährt, daß sie fort sind, haben wir unseren Trumpf verloren. Wie kann Zartokh es nur wagen?“
„Reg dich nicht auf, Kortas. Sollen sie meinetwegen erfahren, wo die beiden jetzt sind, dann werden sie sie dort suchen. Wir müssen nur warten.“
„Aber Euer Majestät, vermutlich sind die Menschen bis dahin tot. Ich gehe davon aus, daß er durch ihre Hilfe versucht, Leben zu erschaffen. Besonders das Mädchen mit seiner doppelten Lebensenergie kann ihm da sehr nützlich sein! Sie ist doch schwanger.“
Rothar hob interessiert eine Augenbraue. „Er ist dumm, wenn er sie sterben läßt. Es ist halb so schlimm. Falls es Zartokh wirklich gelingt, dieses letzte Rätsel der Magie zu lösen, sollten wir uns freuen!“
Sprachlos starrte Kortas den König an. Er konnte nicht glauben, daß es den König so wenig störte, was Zartokh getan hatte. Vor allem schätzte es seine eigene Arbeit so gering.
„Also gedenkt Ihr nichts zu tun?“ fragte er vorsichtig.
„Nein, Kortas. Ganz und gar nicht. Aber du wirst ihnen folgen und Merevas und seinen Kameraden dort eine Falle stellen, wo Zartokh die beiden versteckt. Du bietest dich ihm als Helfer an.“
„Sehr wohl“, erwiderte Kortas und verneigte sich. Dann verließ er wutschnaubend den Raum.

Zartokh helfen. Der König hatte interessante Vorstellungen. Das würde er nicht tun. Er würde ihnen folgen, aber er würde von Zartokh die Auslieferung der beiden verlangen. Er wollte seine Gefangenen zurück. Die Spielereien der Abtrünnigen gingen ihm gelegentlich zu weit, und das war jetzt so ein Moment. Sie würden niemals und unter keinen Umständen neues Leben erschaffen können, deshalb sah Kortas es nicht ein, daß ausgerechnet seine Gefangenen für die verrückten Gedankenspiele der Abtrünnigen herhalten mußten.
Er hatte Arinaya anfangs nicht viel abgewinnen können, aber wenn ihr jetzt etwas zustieß, war es seine Schuld. Er hätte sie laufen lassen können, als es noch möglich gewesen war. Und jetzt war sie schwanger und starb vielleicht. Für ihn war nie davon die Rede gewesen, daß sie sterben sollten. Lelaina sollte sterben, aber nicht die beiden Menschen.
Kortas suchte Mekhan und brach dann auf, obwohl es finstere Nacht war. Es war ihm gleich. Man spielte keine Spielchen mit ihm.