Leseprobe 2: Ein blutiger Zwischenfall

Kurz nach der Mittagsstunde waren wir Talandur so nah gekommen, daß wir vorsichtig wurden. Die Stadt schmiegte sich dummerweise an den Fuß der Berge und wurde im Nordwesten von der gigantischen Mauer begrenzt, hinter der sich die Zitadelle von Carmoth erhob. Noch konnte ich sie nicht sehen, aber das mochte auch daran liegen, daß die dunkle Mauer uns die Sicht versperrte. Sie war sicher zweihundert Fuß hoch und schien im Sonnenschein zu glänzen.
„Unglaublich“, murmelte Iaroth. „Aber wie kommen wir hinüber?“
Gute Frage. Ich konnte auf Anhieb keinen Weg in den Bergen erkennen und weiter voranreiten konnten wir nicht, weil wir dann der Stadt zu nah kamen. Wir beschlossen, erst einmal zu rasten und saßen ab. Auf zwei Felsen ließen wir uns nieder und knabberten an unseren mitgebrachten Äpfeln herum. Unsere Vorräte waren zwar nicht knapp bemessen gewesen, aber zu dritt würden wir davon nicht besonders lang leben können.
Aber das war ein anderes Problem.
Wir ließen uns die Sonne auf den Rücken scheinen und dachten an nichts, als Iaroth plötzlich sagte: „Da vorn.“
Ich schaute auf und folgte seinem Blick. Ein Trupp von einem knappen halben Dutzend Soldaten zeichnete sich am Horizont ab. Sofort war ich alarmiert, warf das Kerngehäuse meines Apfels irgendwohin und beobachtete den Weg der Soldaten. Ihre Kettenhemden blitzten in der Sonne. Schnell wußte ich, daß sie uns auch gesehen hatten, denn sie verließen ruckartig ihren Kurs und kamen auf uns zu.
„Verdammt“, fluchte ich. „Das wird interessant.“
„Kommen sie?“ fragte Iaroth und schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab.
„Ja. Eine Flucht hat nicht viel Sinn… wir wären zu langsam und sie kennen sich hier besser aus.“
„Und was hast du vor?“
Ich klopfte auf meinen Beutel mit Goldmünzen. „Vielleicht ist ihre Gier größer als ihr Pflichtbewußtsein!“

Dieser Plan schien Iaroth zu beruhigen. Er setzte sich wieder und tat es mir gleich: Er wartete ab. Irgendwann fragte er dann aber doch: „Und was, wenn es nicht funktioniert?“
„Dann wirst du sehen, ob du wirklich mit deinem Dolch umgehen kannst.“
Iaroth nickte stumm. Er schien nicht sonderlich beunruhigt, zumindest nicht auf den ersten Blick. Mir gefiel das auch nicht, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich gegen fünf Soldaten bestehen sollte. Bei der Schwesternschaft hatte ich mich bewährt, aber im Kampf?
Es dauerte eine Weile, aber dann waren die Soldaten in Reichweite. Über ihren Kettenhemden trugen sie die schwarzen, silberbestickten Wappenröcke unseres selbsternannten Königs, und in den Händen hielten sie ihre Schwerter.
„Wer seid ihr, Fremde?“ rief einer zu uns hinüber. Ich erhob mich, ohne mein Schwert zu ziehen, das ich sicher im Rücken spürte. Als die Soldaten nun auf den ersten Blick erkannten, daß ich der Schwesternschaft der Klinge angehörte, wurden sie aufgeregt.
„Ihr kommt aus dem Süden“, erkannte der Soldat.
„Das ist richtig“, erwiderte ich.
„Und wie seid ihr hierher gekommen?“
„Wollt Ihr nicht viel eher wissen, was unser Ziel ist?“ fragte ich.
Es schien den Mann zu verwirren, daß ich nur dastand und mit ihm sprach, obwohl ich ihm offensichtlich feindlich gesinnt war. Er war ein Mann mittleren Alters mit Kinnbart und dunklen Augen. „Das natürlich auch“, sagte er. „Wir haben das Recht, euch zu verhaften, wenn wir glauben, daß ihr eine Gefahr darstellt.“
„Wir beiden?“ Ich lachte. „Nein, wir sind nicht auf Ärger aus. Mich wundert viel eher, daß Ihr uns nicht schon längst gefangengenommen habt!“
Darauf hatte der Soldat, im Gegensatz zu mir, keine Antwort. Er wußte schlichtweg nicht, wie er auf uns reagieren sollte. „Was wollt ihr?“ fragte er, ohne auf meine Anspielung einzugehen.
„Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß meine Schwester gegen ihren Willen in der Zitadelle festgehalten wird. Das ist unser Ziel. Wir wollen dorthin, um sie freizukaufen.“
Erst starrte der Soldat mich verdutzt an, dann lachte er belustigt. „Ist ja nicht wahr! Das habe ich ja noch nie gehört! Denkt Ihr denn, man läßt Euch vor?“
„Ich muß es versuchen“, erwiderte ich.
„Und warum sollte ich Euch nicht als Gefahr ansehen?“
„Ich will nur meine Schwester nach Hause holen, das ist alles. Gefährlicher bin ich nicht.“
„Aber natürlich! Ihr seid eine Schwester der Klinge, wer sagt mir denn, daß Ihr kein Späher seid? Wo sind die anderen?“
„Wir sind allein.“ Ich hielt ihm den Beutel mit den Münzen hin. „Nehmt etwas von meinem Gold und vergeßt das Ganze. Denkt Ihr nicht, daß Ihr es gemerkt hättet, wenn wir gefährlich wären?“
Der Soldat lenkte sein Pferd in meine Richtung und ich öffnete den Beutel. Ungefähr die Hälfte der Münzen nahm ich heraus und hielt ihm das blitzende Gold hin. „Was sagt Ihr?“
Er nickte. „Also schön, tut, was ihr nicht lassen könnt. Wir haben euch nicht gesehen.“ Damit hielt er mir die Hand hin und ich legte die Münzen hinein.

„Danke“, sagte ich.
Skeptisch musterte er mich. „Eure Schwester also.“
„Ja. Ich vermute, sie hat die Zitadelle vor einigen Tagen erreicht.“
„Oh, da war ich noch vor Ort. Wie sieht sie denn aus?“
Ich beschrieb ihm Fianna und entdeckte ein wissendes Glitzern in seinen Augen, noch während ich sprach. Der Soldat nickte langsam und sagte: „Ja, ich erinnere mich gut. Scheint so, als sagt Ihr tatsächlich die Wahrheit.“
„Natürlich“, erwiderte ich ruhig. „Könnt Ihr mir etwas über sie sagen?“
Im Augenwinkel sah ich, wie zwei andere Soldaten leise tuschelten und ließ sie fortan nicht mehr aus den Augen. Iaroth stand verkrampft neben mir.
„Nicht viel“, sagte der Soldat. „Ich war dort, als sie eintraf. Sie ist mir gleich aufgefallen, denn sie war die hübscheste von den Mädchen. Sie sollte vor den König gebracht werden. Das ist alles.“
Ich nickte, obwohl ich ihm nicht ganz glaubte. Er tauschte verstohlene Blicke mit den anderen Soldaten aus, dann wendete er kommentarlos sein Pferd und drehte sich erst Augenblicke später noch einmal um. „Ich glaube nicht, daß Ihr sie freikaufen könnt. Ein solches Prachtweib wird der König nicht mehr hergeben.“
Vor Zorn kochend biß ich die Zähne zusammen und spürte deutlich, daß Iaroth kurz vor einem Wutausbruch stand. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und schnaubte wütend.
Aber noch ehe ich etwas erwidern konnte, rief einer der anderen Soldaten: „Sie war gut, deine kleine Schwester. Sie hat sich gar nicht gewehrt, anscheinend hat es ihr gefesselt noch mehr gefallen…“
Während ich glaubte, mir brächen vor Schreck die Beine weg, stürmte Iaroth sofort mit einem Zornesschrei auf die Soldaten zu und zückte seinen Dolch. Obwohl ich ein Gefühl hatte, als hätte man mir mit geballter Faust in die Magengrube geschlagen, schrie ich: „Mach keinen Unsinn!“
Aber es war zu spät. Die Soldaten hatten ihre Schwerter wieder weggesteckt, und das wurde ihnen jetzt zum Verhängnis. Obwohl Iaroth im Gegensatz zu ihnen nicht auf einem Pferd saß, war er nicht zu unterschätzen. Blitzschnell war er da, packte den Soldaten und riß ihn mit unglaublicher Kraft aus dem Sattel, so daß ich meinen Augen kaum traute. Erst dann zückten die anderen ihre Schwerter und wollten ihn angreifen.

Mit einem Satz saß ich im Sattel und packte mein Schwert. Mit links hielt ich die Zügel, mit rechts das Schwert und preschte auf die Soldaten zu, die schon die Schwerter auf Iaroth gerichtet hatten. Aber er hielt den Soldaten am Kragen gepackt, bedrohte ihn mit dem Dolch und wich immer weiter zurück.
Ich hielt in vollem Galopp auf die Soldaten zu, die nicht schnell genug reagierten. Erst hatten sie noch auf Iaroth geschaut, dann war ich plötzlich da und hieb dem Soldaten, der mit mir gesprochen hatte, mit einem Schlag den Kopf ab. Das war nicht meine Absicht gewesen, aber ich wußte in diesem Moment nicht, was ich tat. Sofort hielt mir ein anderer das Schwert entgegen, das ich ihm ohne Schwierigkeiten aus der Hand schlug. Im Vorbeireiten versetzte ich ihm mit meinem Ellenbogen einen Hieb, der ihn halb aus dem Sattel beförderte. Die anderen beiden hielten mit ihren Pferden auf mich zu und zielten auf mich, aber ehe sie mich erreichten und treffen konnten, ließ ich mich aus dem Sattel fallen, warf das Schwert zu Boden und prallte auf dem Boden auf. Für einen Augenblick blieb mir die Luft weg, doch dann sammelte ich mich, kam wieder auf die Beine und packte mein Schwert. Die Soldaten schauten sich auf ihren noch immer voranpreschenden Pferden um und brachten sie ruckartig zum Stehen. Derweil hatte Iaroth mit einer unfaßbaren Kraft den Soldaten zu Boden befördert, kniete auf ihm und zielte mit dem Dolch auf sein Auge. Hinter ihm tauchte der Soldat auf, den ich nicht aus dem Sattel hatte stoßen können, und wollte angreifen. Ohne zu zögern, packte ich meinen Dolch am Stiefel, umfaßte die Klinge und schleuderte sie in die Richtung des Soldaten. Ich traf ihn irgendwo in der unterhalb des Halses und traute meinen Augen kaum, als ich sah, wie er seinen eigenen Dolch fallen ließ und dann langsam aus dem Sattel glitt.
Sofort drehte ich mich um und sah, wie die anderen beiden Soldaten auf mich zuhielten. Sie saßen noch immer im Sattel, deshalb beeilte ich mich, meinen Dolch zurückzuholen. Ich rannte zu dem schwerverletzten Mann hinüber, zog mit einem Ruck den Dolch aus seiner Wunde und ignorierte sein schmerzerfülltes Gebrüll. Daneben schlug Iaroth dem Soldaten unter sich brüllend ins Gesicht. Ich wandte den Blick ab.
Die Soldaten hielten mit gezogenen Schwertern auf mich zu. Sie erschienen mir doppelt so groß wie ich, aber ich wußte, ich durfte nicht zögern. Ich erhob beide Waffen und als die Pferde bei mir waren, schlug ich nach den Tieren und schlitzte ihnen die Kehlen auf. Um dem Blut und den über mir kreisenden Schwertern auszuweichen, machte ich einen Satz nach vorn und ging wieder zu Boden. Nacheinander landeten die Soldaten neben mir, als sie von den Rücken der sterbenden Tiere stürzten. Ich spürte, daß mein rechter Arm trotz allem voller Blut war. Von meinen Klingen tropfte es zäh herab und ich hielt die Luft an, als ich nacheinander meine Waffen in die Kehlen der völlig überrumpelten Soldaten stach.
Dann sackte ich zitternd in die Knie.

„Weißt du, wer ich bin, du Bastard? Hast du eine Vorstellung?“

Der Soldat hustete angestrengt. „Bist du ihr Bruder?“
„Falsch, Bastard! Ich bin ihr Mann!“ Iaroth machte eine Pause und holte dann wieder Luft, um weiter zu brüllen. „Sie ist seit drei Monaten mit mir verheiratet. Mit mir, klar? Sie ist meine Frau! Hat sie euch das nicht gesagt? Habt ihr nicht ihre Narbe gesehen?“
„Doch, natürlich… es… es tut mir ja auch leid…“
„Ach ja? Wirklich? Das klang aber eben noch ganz anders!“
Während der rechte Soldat neben mir sterbend den Kopf zur Seite sacken ließ und der andere bereits tot mit glasigem Blick dalag, wandte ich langsam den Blick zu Iaroth und dem anderen Soldaten.
„Es war nicht richtig…“ winselte der Soldat. Sein linkes Auge war bereits dick angeschwollen, seine Augenbraue aufgeplatzt, seine Nase blutete stark. Er konnte kaum atmen. Iaroth hatte ihm zudem noch den Dolch an die Kehle gedrückt.
„Du bist mir ja ein schöner Held. Was habt ihr mit ihr angestellt?“
Ich erhob mich ruckartig, packte meine Waffen und steckte sie, blutverschmiert wie sie waren, ein. Dann wich ich zitternd zurück.
„Wir… nichts besonderes…“
„Und was soll das sein?“
„Iaroth“, murmelte ich von der Seite. Meine Hand klebte vor Blut. Mein Schwager würdigte mich keines Blickes, bellte aber gereizt: „Was?“
„Das willst du nicht wissen“, sagte ich.
„Doch, will ich! Ich bin es satt, es mir immer auszumalen!“ Er starrte den Soldaten an. „Du hast sie also angefaßt, ja?“
Der Soldat nickte kleinlaut. „Aber nur einmal…“
„Ja, sicher. Und deine Kameraden?“
„Ein paar… manchmal… aber sie hat nicht geschrien. Sie hat gar nichts gesagt. Wir dachten…“
Iaroth nahm den Dolch zur Seite und schlug dem Soldaten noch einmal ins Gesicht. „Wie kann jemand so Dummes behaupten, er habe gedacht?“
Aus irgendeinem Grund fand ich diese Äußerung so komisch, daß ich trotz allem ein Prusten unterdrücken mußte. Dann wurde ich wieder ernst und beobachtete Iaroth, der knallrot im Gesicht war und kurz vorm Platzen stand.

„Und dann habt ihr sie in der Zitadelle abgeliefert, ja?“
Der Soldat nickte. „Sie und die anderen Mädchen. Der König wünscht neue Mätressen… regelmäßig.“
„Und da dachtet ihr, ihr prüft schon einmal, ob sie etwas taugt, was?“ keifte Iaroth und überlegte, den Soldaten wieder zu schlagen, ließ es dann aber sein. „Und was ist beim König passiert?“
„Sie hat ihm gefallen. Es stimmt… ihr werdet sie nie freikaufen können.“
„Das laß mal meine Sorge sein“, erwiderte Iaroth und schnitt dem Mann die Kehle durch. Ich zuckte zusammen, als ihm das Blut aufs Hemd spritzte. Dann sackte er zur Seite und sank keuchend in sich zusammen. Ungläubig starrte ich ihn an. Langsam ging ich zu ihm hinüber und setzte mich daneben. Erst hockte er einfach nur da und starrte ins Nichts, aber dann sah ich, daß er weinte. Dicke Tränen kullerten über seine Wange, dann begann er, heiser zu schluchzen und vergrub die Hände im Haar. Er zitterte am ganzen Leib und wurde von Schluchzern geschüttelt.
Ich konnte in diesem Augenblick nicht weinen. Ich war wie gelähmt, starrte auf die toten Soldaten, die um uns herum lagen, und legte einen Arm um Iaroths Schultern. In mir war kein Gefühl, alles tot. Ich spürte nichts außer langsam aufkeimendem Entsetzen, wenn ich mir dieses Schlachtfeld anschaute. Der am Boden liegende Kopf erschien mir wie ein Mahnmal für die Brutalität, die ich gezeigt hatte. Der Mann hatte noch etwas sagen wollen, ihm stand noch der Mund offen. Seine Augen starrten.
Fröstelnd wandte ich den Blick ab. Iaroth neben mir heulte wie ein Schloßhund, während ich stumm zu Boden starrte. Ich hatte vier Männer und darüber hinaus noch zwei Pferde getötet. Allerdings war mir klar, daß sie ansonsten uns getötet hätten. Das wäre die Alternative gewesen.